• Martinstag
    24. November 2019

    Keine Lichter. Keine Lampionumzüge.
    Wir reiten nicht auf Pferden an Bettlern vorbei und zerschneiden keine Mäntel. Schwerter haben wir nicht.

    Jedes Jahr um den Martinstag treffen wir uns mit Frau Martin auf ein Viertel Martinsgans.
    Wir kommen aus der Stadt gefahren und laufen durch den Wald. Im Landgasthof Magersdorf wartet ein fetter Schmaus: Gans (oder nicht Gans). Rotkraut jeder und niemand ohne Klöße. Danach der Geist von gutem Obst. Aus der Flasche frisch auf den Tisch. Wir rülpsen und streicheln uns wohlig die Bäuche. Und wandern zurück.
    Martinstag.


  • Schlachtentag
    15. Oktober 2022

    2021 … Corona, auch in den Hügeln über Jena
    Das Zusammenfinden zu kriegerischen Handlungen kann sich schädlich auf die Gesundheit der Beteiligten auswirken und Menschenleben gefährden. Die Nachstellung der Schlachten von Jena und Auerstedt fällt daher aus.

    1806 … Cospeda, in den Hügeln über Jena
    Im Oktober 1806 kämpft man hierherum und anderswo die Schlachten von Jena und von Auerstedt.
    Imperator Napoleo, corona Franciae, vincit … Napoleon gewinnt. Es ist die Rede von 47900 Mann, die Leben, Gesundheit oder Freiheit verlieren. Manche Mutter, Geliebte, Braut oder Frau mag sogar froh sein, wenn der Alte nicht mehr heim kommt.

    2022 … Europa
    Seit Monaten tägliche Kriegsnachrichten liegen mir wie Steine auf der Brust.

    2022 … Cospeda, in den Hügeln über Jena
    215+1 Jahre Schlachten von Jena und Auerstedt finden statt.
    Als ich aus dem Auto steige, hallt ein Kanonenschuß. Der Krieg hier oben ist schon in vollem Gange und ich bin zu spät. Es wummert hinter den Häusern. Das Schlachtfeld ist abgesperrt. Gewehrfeuer knattert. Die Leute am Einlass winken mir freundlich zu, ich darf ohne Schein passieren. Wieder Kanonen. Pferdemist auf der Straße. Männer, die außer Atem, aber enthusiastisch Hurra brüllen. Doch gegen Gewehrsalven kommen sie nicht an.

    Nun kann ich den Rauch der Waffen sehen. Hinter Absperrungen marschieren Menschen in altmodischen Hosen, ungewohnten Jacken und zu großen Hüten. Hügelauf und hügelab tragen sie ihre Gewehre und Spieße, stolpern über Maulwurfshügel und fallen, weil es zum Spiel dazugehört.
    Es ist wie in einem großen Schachspiel, so wie damals in den Parks.

    Vor den Absperrungen Menschen. Gucken gebannt, schlendern entspannt, rot-weißes Flatterband trennt sie von den Soldaten. Picknickdecken, Nudelsalat und Schokokuchen, Kaffee und Piccoloflaschen. Oh ja, ein Bier hätte ich auch gern, aber  eine Schwadron Berittener schneidet mich von der Versorgung ab. Der Kaiser, höre ich, kommt extra aus Amerika. Jedesmal. Paulchen soll doch mit seinem Schwert nicht die Oma schlagen, das tut der doch weh! Nein Tine, mit Gewehren zielt man nicht auf Hunde! Paulchen …!!!! Ja Dudley, nachher gibt es noch mal Zuckerwatte. Siehste Paulchen, das kommt davon! Doch doch, Kristin, du darfst dich bestimmt mal auf ein Pferd setzen. Jetzt heul nicht, Paulchen!

    Überall Fotoapparate, ich weiche Videokameras aus. Immer wieder Selfi-Blitzgewitter.

    Irgendein Sieg zeichnet sich ab. Wo nicht mehr taktisch marschiert und geschossen wird, verschwinden die Soldaten vom Schlachtfeld.

    Verwundete  rappeln sich auf.  Wenn einer tot war, hilft ihm jetzt der Gegner aus dem Gras. Hier wird geraucht, dort klopft man sich den Dreck vom Tornister. Oder auf die Schulter. Männer und Frauen begrüßen sich wie alte Bekannte oder tauschen Adressen aus. Vermutlich geht es nicht nur um Uniformschnittmusterbögen.
    Eine Husarin fachsimpelt mit dem Geschützführer der gegnerischen Kanone. Der darf mal mit ihrem Säbel rumfuchteln, hört aber sofort auf, als das Pferd unruhig wird.

    Beim Troß stehen Sieger und Besiegte zusammen. In der Schlange zum Bierzelt wird gelacht, am Grill mehrsprachig gesungen. Dazwischen wuseln Nichtkombattanten, buntes Volk, fliegende Händler, Kinder, Frauen, Männer, Omas, Opas, Jogger, Radfahrer, Hunde und Besoffene.

    Doch, ein guter Tag


  • Tag am Meer
    07. August 2020

    Strand und Düne so weit wie ein kleines Land. Fester weißer feiner Sand von Horizont zu Horizont. Die blassblaue See glitzert grell. Wellen klatschen träge ans Ufer. Fern rechts blinkt ein durchsonnter Leuchtturm. Möwen und Fische gemeinsam beim Picknick. Regenbogen und Einhörner, überall Glitzerstaub. Mal ein Hund mit Mensch und vereinzelte Strandläufer verhindern mentales Aquaplaning.

    Hinter mir Dünen aus weißem Sand und grünem spitzen Zeug. Dänische Fahnen wehen hoch an den Enden weißer Fahnenmasten unter weißen Wolken in einem gleißend blauen Himmel. Ich stehe im Inneren einer Schneekugel, in meinem eigenen, privaten Universum aus purer Sonne.

    Möwen kacken nur ins echte Leben.

    Das Meer! – Erinnert sich das Stammhirn an die alte Heimat? Sind hier einst meine Gene an Land gekrochen? Befinden sich die 70% Wasser in mir in Resonanz mit der großen alten Mutter? Stehe ich vor dem ältesten Wesen der Welt? Oder habe ich doch nur die falsche Sonnencreme eingepackt?
    Das Meer! Das Meer! Tor in die Unendlichkeit und ich stehe auf dem Fußabtreter davor!

    Dann kommen die Autos.
    Fassungsloses Entsetzen verebbt langsam …

    Strand und Düne so weit wie ein kleines Land. Fester weißer feiner Sand von Horizont zu Horizont. Die blassblaue See glitzert grell. Träge Wellen klatschen ans Ufer. Fern rechts blinkt ein durchsonnter Leuchtturm. Hier und dort qualmt ein Grill. Die Welt ist etwas bunter geworden, jeder findet seinen Platz. Möwen und Menschen gemeinsam beim Picknick …


  • Alabasterküste
    01. August 2022

    Dieppe. Normandie. Kanalküste.
    Meer! Mehr wollte ich nicht wissen.

    Dann stehe ich am Strand von Puys. Dieppe links hinter dem Hügel. Zu Fuß, an der Küste entlang, vielleicht eine halbe Stunde. Das weiß ich noch nicht. Auch nicht, daß die Felsen hierherum Alabasterküste heißen. Sonst würde ich jetzt lachen.
    Ich weiß auch nichts vom Dieppe Raid. Sonst würde ich nicht mehr lachen. Genau hier, fast auf den Tag vor achtzig Jahren, genau auf diesem Strand. Hase und Igel. Wieder und wieder; Hase und Igel. Mein Opa mit dem Panzer war allhier!

    Im Jetzt und hier, war es … hmm … rustikal. Die Felsen scheinen angerostet. Verwitterte Eleganz. Die Rückseite vom goldenen Sandstrand. Wie hinter dem Supermarkt, wo die Mülltonnen stehen. Abgegriffen, aber gut in Schuss.
    Wie ein altes Paar bequemer, ausgetretener, gut geputzter Schuhe.

    Zum Fotografieren habe ich nur die Kamera im alten Smartphone. Mit der sehen alle Bilder irgendwie kantig aus. Hierher passt es gut.

    Auf dem Strand rechts, weg von Dieppe, liegt die Küste der letzten hundert und tausend Jahre, zerlegt in kürbisgroße Teile: Zierkürbis, gewöhnlicher Gartenkürbis, Riesenkürbis. Eine Lektion in Vergänglichkeit und Naturgewalt. Keine elementare Wucht, die Berge zerschmettert, sondern Understatement. Steter Tropfen. Die schwache Beharrlichkeit, die Küsten zerlegt.

    In zehn Kilometern ein Kernkraftwerk. Nur zu ahnen. Ein paar Lichtpunkte und ein Glimmen von Neonlicht. Kopfkino malt ein schwermütiges Endzeitbild daraus und ergänzt Details, auf die ich gerne verzichte.

    In der Dämmerung, als die Welt ihre Konturen verliert, ahne ich hier am Strand von Puys – das französische Plage de Puys macht es nicht besser – die lebensleere, trostlose Seite der Unendlichkeit. Und das Kraftwerk wird auf einmal eine Insel aus Licht und Verheißung.

    Am Horizont brechen die Wolken auf. Die weiße Alabasterküste glüht rot im Sonnenuntergang. Es ist das gute Glühen, daß die Seele weit macht.


  • Wolfsland
    08. Januar 2023

    Der Wolf ist im Land. Und vor Rügen wurde ein Hering gesichtet. So ein Hering in der Ostsee ist ja mittlerweile schon besonders.

    Überall im Land interessieren mich Wölfe so wie Schneeglöckchen im Nachbargarten.
    Hier nehme ich den Wolf persönlich, weil er da ist. Ich weiß, daß er hier ist. Weil die Menschen über ihn reden. Weil es Fotos gibt. Daß er mir unsichtbar bleibt, nehme ich ihm übel.

    Ein kleines Dorf in der Lausitz, am Rand der Welt, am Rand der Autobahn und des verbotenen Landes.
    Hier gibt es ein Küchenfenster mit Aussicht auf den Wolf. Wenn der sich mal zeigen würde. Früher wurde im Dorf nur geraunt, wenn es um den Wolf ging. Spricht man heute über ihn, klingt es, als hätte man beim Einkauf die Packung Mehl vergessen.

    Der Wanderweg am Dorf vorbei ist über viele Kilometer die Kante zum verbotenen Land. Früher waren dort Bergbau und leuchtende Zukunft. Dann nur noch Zukunft. Und jetzt Lebensgefahr. Das Grundwasser kehrt zurück und lässt sich durch den Menschen nicht bezwingen. Nicht in der Eile, die wir fordern. Geschundenes Land nimmt eine Auszeit. Es unterspült Landwirtschaft, Projekte und Hoffnungen. Ist dann mal für Jahre weg.
    Dort lebt der Wolf.

    Wenn ich um das Dorf spaziere, weiß ich, in Gestrüpp, Gebüsch und Dickicht neben mir steckt er! Der Wolf oder die Wölfin schauen mir nach. Vielleicht haben sie Kinder dabei. Ihre Augen funkeln in Vorfreude auf den Moment, wenn ich ohne Fotoapparat bin.


  • Bilder für eine Ausstellung
    16. und 17. Februar 2023

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